Dienstag, 8. März 2016

Neues aus der Slam WG - Episode 1: Die Wahlnachlese




Traurig sitzen die vier Künstler der Wetterauer Poetry-Slam-Boygroup in ihrer Küche und starren auf Zeitungen, Tablets, Laptops und Kaffekannen. Am Wochenende war Kommunalwahl: „In Büdingen kommt die NPD auf 14 Prozent“, liest Domi mit leiser Stimme vor. „Mmmmh“, sagt Andy und streichelt seinen Bizeps. Langsam hebt Artur seinen Kopf vom Tisch, dropt eine ukrainische Line und legt ihn wieder ab. „13 Prozent für die AfD im Kreis“, ergänzt Domi in Trauer auf ein Verb verzichtend. Alle schweigen. „Wer schreibt nun einen Text für unseren Blog“, fragt Andy wie immer ungebremst motiviert – irgendwo zerbricht ein Stift. „Keine Lust“, grummelt Domi, „keine Zeit“, antwortet Thorsten, `irgendwas Ukrainisches´ spittet Artur und schiebt das Poetry Slam Wetterau Buch – ´Texte von Toleranz, Respekt und Anerkennung´ langsam über die Tischkante. 

„Wenn wir annehmen, dass wir mehr als tausend Besucher in einem Jahr auf unseren Slams haben, dann bedeutet das ja auch, dass darunter mindestens 100 Wähler rechter Parteien waren“, rechnet Domi. „Du kannst nicht rechnen“, erinnert in Andy, „Thorsten kann rechnen.“ „Es sollte uns schon quälen, dass sich zu viele vom Wählen stehlen“ antwortet Thorsten mit Blick auf die Wahlbeteiligung von lächerlichen 50 Prozent. 

„Warum genau gehen wir eigentlich so häufig auf Bühnen?“ fragt Domi. „Fame und Bitches“, antwortet Artur, „andere Hobbys wären mir am Abend einfach zu zeitaufwändig“, betont Thorsten. „Weil wir als Künstler eine gesellschaftliche Verantwortung haben. Aus der Möglichkeit viele Menschen mit unseren Worten zu erreichen, ergibt sich a priori die Pflicht wichtige Themen anzusprechen und als Stimme der Kunst, die schon immer Sprachrohr der Vernunft und Menschlichkeit war, die Herzen und Hirne der Menschen zu erreichen, bevor wir a posteriori am Arsch sind“, sagt Andy. „Nice“ antwortet Artur und öffnet ein Bier. „Also wenn ich das nochmal durchrechnen darf,“ sagt Domi. „Tu dies tunlichst nicht“, wirft Thorsten dazwischen und ergänzt: „Eine alte Slam Weisheit besagt doch: Wenn niemand in die Jury will, gewinnt meist der schlechteste! Aber unser Publikum will doch immer gerne in die Jury, also gehe ich davon aus, dass wir keine Rechtswähler - oder besser Unrechtswähler -  unter unseren Zuschauern haben.“ „Du meinst, das ist wie damals, als Tokio Hotel weltweit Millionen Fans hatte, ich aber nicht einen Menschen kannte, der einen kannte, der einen kannte, der schon mal von jemandem gehört haben will, der Tokio Hotel eventuell ganz duffte findet?“ „Ähm, ja, ich weiß nicht, vielleicht?“ antwortet Thorsten. „Ich muss durch den Monsuuuuuun“, grölt Artur und stupst das nächste Poetry Slam Wetterau Buch – ´Texte von Toleranz, Respekt und Anerkennung´ von der Tischkannte. 

„Übrigens: Auf dem Wahlzettel zur Reichstagswahl vom 26.März 1936 stand über dem Namen Adolf Hitler der Spruch ´Reichstag für Freiheit und Frieden`,“ sagt Andy und legt sein vergilbtes Geschichtsbuch zur Seite. „Ja, aber die Verhältnisse von damals lassen sich ja gar nicht mit den heutigen vergleichen“, sagt plötzlich die Stimme der Relativierung und fliegt apathisch grinsend aus dem Fenster. „Bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 kam die NSDAP auf 18,3 Prozent“, sagt Domi und schließt Wikipedia. Der Rest ist Schweigen.  


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